Aus dem Nachwort
Norbert Hummelt
Alles, woran man glaubt, beginnt zu existieren.
Annäherung an eine Dichterin
»Lieber Norbert, hier kommt mein Buch mit herzlichen Grüßen aus Freiburg, wo es gerade novemberlich grau und trüb ist, dennoch würde ich gerne hinausgehen und durch die Landschaft streifen, was ich bei jeder Jahreszeit gerne tue, aber leider liege ich gerade im Bett und gehe nur durch geistige Landschaften. Herzlich, Marie«, lese ich in der Klappkarte aus dem November 2020, die dem an mich übersandten Exemplar von Marie T. Martins Gedichtband Rückruf beilag. Auf die Vorderseite der Karte ist ein Foto aufgeklebt, Tautropfen an vergilbten Halmen. Ein Bild, das in seiner Zartheit und Genauigkeit wie ein Vers aus einem ihrer Gedichte wirkt oder ein Satz aus einem ihrer kurzen Prosatexte.
Ende Dezember 2016, an einer Bushaltestelle in einem Wiener Außenbezirk, es war Abend und längst schon dunkel und nur die Straßenlaternen verbreiteten spärlich ihr Licht, da bemerkte ich an der Plexiglaswand des Wartehäuschens einen kleinen Aufkleber. Darauf zu lesen war ein Satz der Schriftstellerin Ilse Aichinger: »Alles, woran man glaubt, beginnt zu existieren.« Die Schrift tauchte gleichsam aus dem Dunkel auf und machte es hell. Meine Tochter (sie war damals 12) war davon begeistert, sie fotografierte diesen Spruch und wir hatten ihn dann in Berlin für ein paar Jahre an unserer Wohnungstür stehen. Bis uns stärker ins Bewusstsein kam, dass man ja auch an dunkle Dinge glauben kann und es gefährlich sein könnte, sie durch diesen Glauben zum Leben zu erwecken, zumindest wollten wir daran nicht jedes Mal denken, wenn wir nach Hause kamen. Doch kam dieser Satz von Ilse Aichinger wieder zu mir zurück, als ich Marie T. Martins Gedichtband aufschlug, als drittes dreier vorangestellter Zitate: »Alles, woran man glaubt, beginnt zu existieren.«
Marie T. Martin begegnete mir zuerst als Studentin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, es war im Sommersemester 2004 und sie nahm an meinem Romantikseminar teil. Am Ende des Semesters gab sie eine schriftliche Hausarbeit ab und dann verlor ich sie aus den Augen. Aber schon ein paar Jahre später begann ich, immer öfter von ihr zu hören. Sie war nach Köln gezogen, wo ich lange gelebt hatte. Dort war sie Teilnehmerin des Literatur Ateliers, und immer wieder hörte ich, wie bereichernd ihre Anwesenheit war und wie sie für ihre Texte geschätzt wurde. Sie erhielt das Kölner Brinkmann-Stipendium und den Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen und war zu einer angesehenen Autorin meines heimatlichen Bundeslandes geworden, in das ich nur noch selten kam, und inzwischen waren auch ihre ersten Bücher erschienen. Sie debütierte mit kurzer Prosa, dann kamen die ersten Gedichte, und wer darin las, konnte nicht im Zweifel sein, dass hier eine Dichterin schrieb, die etwas ganz Eigenes, Unverkennbares hatte, das in allen ihren Äußerungen vibriert, gleichviel, ob in der Lyrik oder der Prosa, und das doch ganz schwer zu fassen ist.
Gedichte unterhalten ein spezielles Verhältnis zur Zeit. Sie nehmen nur wenig von ihr in Anspruch – vielleicht ein, zwei Minuten, wenn man sie gesprochen hört, kürzer noch beim stummen Lesen –, und doch ist eine lange Zeit des Wartens und des Nachdenkens in sie eingegangen, Lebenszeit auch. Ebenso bergen sie, im glücklichen Fall, eine unbestimmt lange Zeit des Nachdenkens und der Anschauung für ihre Leserinnen und Leser. All das gilt aber auch für die Prosaminiaturen Marie T. Martins, wenn sie auch in ihrem ersten Band Luftpost noch über eine gewisse Länge verfügen und sie manchmal der klassischen Kurzgeschichte nahekommen. Wie etwa Packmans Party, die Schilderung einer entfesselten Fete mit tragischem Ausgang. Berührend daran ist besonders die Verlorenheit der Ich-Erzählerin, ihr leises Aus-der-Welt-Fallen ist ein Schlüsselmotiv. Die Prosaminiaturen werden dann in den späteren Bänden nicht nur kürzer, sondern auch immer leichter, eine Richtung, die schon in dem schönen Titel Luftpost (alle ihre Buchtitel sind ausnehmend schön) anklingt. Es ist wirklich, als schwebten sie davon, und man schaut ihnen verwundert nach, wie sie sich langsam vor unseren Augen entfernen ... Dabei halten sie sich stets an eine durchaus übliche Syntax. Ihre Sätze sind zumeist einfach gebaut und verwenden eine reguläre Interpunktion. Die Gedichte des Bandes Wisperzimmer verzichten dagegen nahezu ganz auf Satzzeichen. Eine für die Autorin notwendige Differenzierung zwischen den Gattungen zu diesem Zeitpunkt ihres Schreibens. Es ist ganz deutlich, dass die Dichterin zu jeder Zeit weiß, was sie tut, und welche formalen Mittel dem jeweiligen Text angemessen sind.
Aber kommen wir auf diese Weise ihrem Geheimnis näher? Und wie sollten wir überhaupt in ihren Texten lesen, jetzt, da sie alle gesammelt vorliegen? Die Freude darüber, dass nun alles beisammen ist, was Marie in Buchform veröffentlichte und als Nachlass noch für den Druck vorbereitete, stellt uns nun vor die nicht ganz einfache Aufgabe, zu entscheiden, wo wir ein Buch aufschlagen, das auf solche Weise komponiert ist: Prosa – Lyrik – Prosa – Lyrik – Prosa. Es scheint, als sollten wir uns darin ganz frei fühlen, blättern, wie wir mögen, kramen wie in einer großen Schatzkiste. Um auf diese Weise zu bemerken, dass wir doch geführt werden, um den sehr bewussten Fügungen und kompositorischen Entscheidungen auf die Spur zu kommen, die dafür verantwortlich sind, dass ein Gedicht in bestimmter Weise auf ein anderes folgt. Wir haben eine lineare Ordnung, bewegen uns in Raum und Zeit, und doch ist alles zugleich für uns da, unentscheidbar – ein Sinnbild, das die Poetik ebenso berührt wie die Metaphysik. Und nirgendwo ist das große Zugleich auf so dichtem Raum konzentriert wie im Gedicht. Die Konzentration auf solche Momente der Verdichtung bedeutet freilich, dass in Marie T. Martins Schreiben eine Tendenz zum Roman nicht vorkommt. Er ist ihr nicht gemäß. Das ist zugleich eine Entscheidung gegen alles Marktgängige.
Was immer sie schreibt, bleibt der Suche nach existenziellem Ausdruck treu. Die großen Fragen nach dem Woher und Wohin und Warum unseres Hierseins begegnen uns in den Texten von Anfang an und sie sind stets mit den konkretesten Dingen verbunden. Ihre Texte sind auf eine leichte und schöne Weise zugänglich und doch ist immer etwas da, das sich entzieht. Es ist eine große Verbundenheit mit aller Kreatur, eine Liebe zu den Farnen und den Sternen wie auch zu den profansten Erscheinungen des Alltags spürbar, und dennoch zugleich oder eben deshalb eine leise, aber rettungslose Verlorenheit. Eine Verletzlichkeit, vor allem das. In beiden Gedichtbänden begegnet das auffällige Wort Wabenwunsch. »alles was ich denke wächst // in das zimmer den wald / zelle um zelle ein wabenwunsch«; dieses Motiv wird später noch einmal fruchtbar und gibt den Titel für ein Gedicht und ein Kapitel in Rückruf: »ist der raum in dem wir sitzen ein erzählter raum«. Der Wabenwunsch ist ein eindringliches Bild für das Verlangen nach einem ganz aus Worten gewebten Schutzraum. Mehr als diesen Raum braucht es nicht. Kein Haus ist vonnöten; besser, man reist mit wenig Gepäck. Maries Figuren, ihre Stimmen sind und bleiben jung, im Aufbruch und einer immerwährenden Suche begriffen, nie gesettelt, und doch ist von Beginn an etwas da, das beinah altersweise wirkt gerade in der immer neuen Vergewisserung der Augenblicke der Kindheit. Können Gedichte die Welt ändern? Es gibt nie ein Abfinden mit den Dingen, wie sie sind, denn die Poesie ist dazu da, sie zu transzendieren. Im Wissen, dass das meiste, was man tun kann, nur vergeblich ist, und nur bleiben kann in ein paar Versen oder Sätzen. Wie schon Novalis sagte: Die Poesie ist das echt absolut Reelle.
Kein Zweifel, dass Marie T. Martin in ihrem Schreiben Romantikerin war, ganz geistig und von einer unstillbaren Sehnsucht getrieben. Aber damals, im Romantikseminar, kamen wir nicht miteinander ins Gespräch. In späteren Jahren begegneten wir uns dann im Kloster Steinfeld, einer ehemaligen Prämonstratenserabtei in der Eifel. Die Kunststiftung NRW und das Literarische Colloquium Berlin hatten dorthin eingeladen, zu mehrtägigen Werkstätten und Textgesprächen, und es war, als würden wir einander deutlich besser kennen, als es tatsächlich der Fall war. Dann hörte ich, dass sie zurückgezogen war nach Freiburg, ihre Heimatstadt. Im Januar 2021 konnte ich sie besuchen, in der verwunschen wirkenden Dachzimmerwohnung in dem Haus, in dem sie bei ihrer Familie lebte, freilich bin ich in der Rückschau gar nicht mehr ganz sicher, ob es überhaupt ein Dachzimmer war. Und die ganze vielleicht zwei Stunden währende Begegnung und mein Besuch dort und der Weg über eine Eisenbahnbrücke und die winterliche Dunkelheit schon am späten Nachmittag (es lag Schnee) könnten einem ihrer wundersamen Kurzprosatexte entstammen, wenn ich nicht bei dieser Gelegenheit Aufnahmen gemacht hätte von ihrer Stimme. Aufnahmen für die Plattform Lyrikline und einen Radiobeitrag für den SWR. Sie las Gedichte aus Rückruf und Wisperzimmer und wir führten ein Gespräch über ihre Poetik, ich stellte Fragen, wie sie sich mir aus der Lektüre ihrer Gedichte ergaben. Wir saßen also in diesem Zimmer und das Band lief und sie sprach und las ihre Gedichte ein. Mit einer Kraft und Intensität, die man nur hat, wenn man für Augenblicke ganz gesund ist, so etwas macht die Poesie.
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