Stimmen zum Buch
Ich möchte Jürgen Nendzas Lyrik eine Lyrik der Erschütterbarkeit nennen ... Sie begegnet den Zumutungen und Verheerungen, welche der
Natur widerfahren, offensiv. Nendza amalgamiert und legiert das Akute und das Aktuelle mit dem, was von Verlusten noch auffindbar ist und lässt, mit Hebammenkunst begabt, etwas ganz Neues daraus hervorgehen ... Das Überraschtsein ist dabei der Modus, der die verletzten, verschwindenden, sinnlos vereinzelten und zum Verschwinden gebrachten, flüchtigen Dinge – und Augenblicke – Gedicht werden lässt. Die besondere Aufmerksamkeit, die Nendza ihnen widmet, lässt uns das Allervertrauteste anders und neu sehen.
Ich möchte an Jürgen Nendza ein Lob weitergeben, das der Aphoristiker Georges Perros auf den französischen Dichter Francis Ponge gemünzt hat:
Sie haben in sich, was Sie den Gegenständen verleihen: Jubel, Genuss, die beste Art von Naschhaftigkeit, und am Ende haben Sie aus lyrischen Gründen immer recht. Sehr häufig ist so etwas nicht.
Hanns Zischler: Laudatio anlässlich der Verleihung des Wilhelm-Lehmann-Literaturpreises an Jürgen Nendza (2023)
Nendzas neue Gedichte vollführen im Wesentlichen zwei Bewegungen: Zum einen den geschichtsarchäologischen Weg nach unten, in die Tiefenschichten der Erde, wie im Zyklus
Abraum. Zum anderen aber ein Emporfliegen ins Offene, hin zu den Zeichen des Glücks, wie sie sich im titelgebenden Gedicht vom
Auffliegenden Gras manifestieren ...
In der Art eines konzentrierten
Nature writing entwirft der zweite Zyklus etwa ein traditionsbewusstes
Gespräch über Bäume, das berühmte Vorläufer in Literatur- und Kunstgeschichte durchaus im Blick hat. In diesem
Arboretum-Kapitel findet sich auch ein besonders faszinierendes Gemäldegedicht, eine kongeniale Anverwandlung von Paula Modersohn-Beckers Ölbild
Kleines Kind mit Birkenstamm:
allein hineingestellt / ins himmelgraue Freilandhell umklammert / seine Hand das Holz: ein Stab / in dem schon früh das Kümmern wächst.
Gegen Ende kommt die Frage auf: "Was wird aus der Windstille jetzt?" Sie bezeichnet den Augenblick der Erwartung, in dem Nendzas kunstvoll gewebte Gedichte die Dinge in ein neues Licht rücken, so dass sie von sich aus zu strahlen beginnen.
Der Tagesspiegel, M. Braun
Jürgen Nendza hat in seinem weit gespannten Werk für eine der großen Veränderungen der sichtbaren Welt, das Verschwinden der alten Industrien und die Terrainverschiebungen des Tagebaus, eine poetische Sprache gefunden. Sein jüngster Gedichtband
Auffliegendes Gras (2022) ist ein Höhepunkt seiner Dichtkunst, in der nüchterne Bestandsaufnahme und halluzinatorische Wahrnehmungsintensität einander durchdringen.
Der Dreiklang aus Landschaft, Geschichte und Dingwelt, den Jürgen Nendza seit einem Vierteljahrhundert in seinen Gedichten anschlägt, gehört zu den großen Errungenschaften gegenwärtiger Lyrik.
Aus d. Jury-Begründung z. W.-Lehmann-Preis 23
Hier stand das Universum / eines Walnussbaums, heißt es in Jürgen Nendzas neuem Gedichtband Auffliegendes Gras, in dem er bittere Realität mit tief empfundener Zuneigung für die Welt verbindet. Archäologische Funde legen die Spur zu Menschen früherer Kulturen, zu Verlust, Gedanken an den Krieg, Leben und Sterben. Zugleich bietet die Natur den Zugang zu meditativer Gedankenwelt, bietet ein wucherndes, wummerndes Summen. Mit fantasievoller Fachlichkeit nähert er sich dabei Bäumen, lässt aus deren Botanik Bilder erwachsen. ... Nendzas Gedichte sind herausfordernd, aber lohnend.
Aachener Zeitung, S. Rother
Im neuen Band Auffliegendes Gras heißt der erste Gedichtzyklus Abraum. Er ist eine überaus genaue poetische Vergegenwärtigung der verschwindenden Landschaften und Dörfer in den Gebieten des Rheinischen Braunkohletagebaus.
Im Arboretum, dem zweiten Abschnitt des Bandes, sind Silberweide und Espe, Schwarz-Pappel und Weißbirke, Stieleiche und Rotbuche, Feldulme und Eberesche, Rosskastanie und Esche versammelt. Statuarisch wirken sie nicht ... Die Verse zeichnen nicht die Umrisse, die Physiognomie der Bäume nach, als müssten sie ein Bestimmungsbuch illustrieren, sondern erkunden ihre Lebenswelt.
Erst im letzten Abschnitt des Bandes, Kretisches Gelände, taucht die Titelwendung auf. Es herrscht Windstille im Café Alyggos in der Mirabellobucht, als der Gast geht: »Du stehst auf. Spatzen stauben hoch, / Gedanken an auffliegendes Gras.« Mag sein, es ist die Stunde des Pan. Denn es gibt bei Jürgen Nendza auch die diskrete Anwesenheit der Mythologie. Sie trägt dazu bei, dass sich dieser schmale, rüttelverdichtete Band nur schwer auslesen lässt.
Süddeutsche Zeitung, Lothar Müller (April 2022)
So, wie die großen Schaufelradbagger an den Erdkrusten entlang schaben, so gräbt Jürgen Nendza mit seiner Sprachschaufel in der Welt und sieht sich Erdschichten an und natürlich auch Wortschichten. »Gebundene / Schwebstoffe, Lehm, // schaufelnde Schaufeln. / Immer bleibt etwas / stehen in der Luft.« In dem kleinen Zitat hat man gewissermaßen die ganze Poetik von Jürgen Nendza in Reinform. Schwebstoffe, Lehm, das sind sozusagen die Aggregatzustände, im Lehm sind die Bodenschichten, die Schwebstoffe sind die poetische Einbildungskraft, die sich entzündet und dann schwebt. Die schaufelnden Schaufeln sind das Verfahren, das sich immer auch selber bedenkt. Und dann hat man die Reste, die in der Luft stehen bleiben, das sind die Lücken im Sprechen, das, was die Zeichen der Sprache nie einlösen können.
Es gibt auch einen sehr schönen Zyklus, der nennt sich Arboretum. Eine Sammlung von Baumgedichten ... Und es gibt einen Zyklus auch von ganz kleinen Gedichten, eine Sammlung eher, die heißt Was zusammenfällt. Das sind Augenblicksbilder, die sich an dem Rascheln einer Amsel oder an einem Klopfen im Ohr entzünden können. Man sieht an diesem kleinen Stücken, was eigentlich die wirklich schöne Verskunst von Jürgen Nendza ausmacht: »... unter deinem Rippenbogen / Schlag für Schlag eine Andacht / ins Fließen. Manchmal fliegen Vögel / still durch uns hindurch. Hier, nimm / diesen Zweig, er ist voller Wälder«.
DLF Kultur (Mai 2022), Nico Bleutge zu Auffliegendes Gras
Auffliegendes Gras räumt ganze Sprachschichten ab, dekonstruiert die Welt, um zu brauchbarem Worterz vorzustoßen, wo das Gedicht darauf wartet, konstruiert zu werden. ... Auffliegendes Gras ist von beeindruckender Poesie, voller raschelnder Bäume, die die Sprache im Gedicht pflanzt, voller Naturschauspiele, auf die Versbühne gebracht, eine Freude zu lesen.
Tageblatt (Mai 2022), Guy Helminger
Im Strom der gegenwärtigen Natur- und Landschaftslyrik ist Jürgen Nendza, Jahrgang 1957, aus Essen stammend und in Aachen lebend, einer der produktivsten Autoren. Seit seinem Debüt von 1992 hat er etwa ein Dutzend Gedichtbände publiziert, darunter Titel wie Wir treffen uns im Apfel, Mikadogeäst oder Die Gelegenheit der Wiese. Diese Linie setzt Auffliegendes Gras fort, sein neuer Band, der aus fünf Zyklen in freien Versen komponiert ist.
Abraum, der erste Zyklus, ist der interessanteste und auch gelungenste Zyklus. Acht Dreizeiler zeichnen das rheinische Braunkohlerevier mit seiner vom Menschen verwüsteten Landschaft, den Neuansiedelungen der abgebaggerten Dörfer und der Etablierung eines Naherholungsgebiets mit künstlichem See. Nendza bildet sprachlich Prozesse nach wie Rüttelverdichtung oder Revierverluste, er evoziert die technoide Säbelzahnkatze und evoziert das Malmen aus der Tiefe. Die Bilanz ist negativ, der Zyklus endet elegisch. ... Pathos mischt sich mit Groteske.
Frankfurter Allgemeine Zeitung (Juni 2022), Harald Hartung
Jürgen Nendza ist ein Tiefenbohrer der Natur und der Geschichte. Ein Lobredner der Schöpfung. Zudem ein genauer Beobachter und origineller Vermittler des Zwischenmenschlichen. Auf seine Verse kann sich immer wieder neu einlassen. Auffliegendes Gras verdichtet viele Geschichten und lässt jede Menge Assoziationen zu, die der Entdeckung harren. ... Wer glaubt, endlich sicheres Deutungs-Terrain erreicht zu haben, sollte sich seiner Sicherheit nochmals vergewissern. Um es mit einem Zitat zu sagen: Hier, nimm / diesen Zweig. Er ist voller Wälder.
buecheratlas.com (August 2022), Martin Oehler
Jürgen Nendzas Bilder sind pointiert und originell. Ein spannendes Panorama. Während er in "Abraum" urbane Bilder aufscheinen lässt, widmet er sich im Zyklus Arboretum der heimatlichen Baumkunde. Er schreibt über Silberweide, Espe und Schwarz-Pappel. In den Gedichten versenkt er sich sprachlich in die Natur, wodurch die Bäume eine Art Stimme erhalten. In Espe heißt es: »Selbstenzündend liegt ein Schweigen in dem Zittern: Dein Laub blickt weiß ins Dunkel.«
Dieses Hinausragen über die begriffliche Welt macht die ebenso komplexen wie verspielten Gedichte von Jürgen Nendza auf mehreren Ebenen anspruchsvoll. ... Seine Verdichtung der Welt muss man letztlich durch Lese-Arbeit erschließen. Da hilft es, wie äußerst musikalisch diese Texte sind.
WDR, Christoph Ohrem (Oktober 2022)
Jürgen Nendza, ein Routinier der Verknappung und Präzision, ist seinem Stil und seinen Themen konsequent treu geblieben. Auch hier finden wir wieder viel Natur, das Einweben von vorgefundenem Sprachmaterial, zum Beispiel das Vokabular des Tagebaus, sowie Referenzen und anverwandelte Materialfunde wie ein Zitat von Joseph Beuys oder eines aus einem alten Kochbuch, Gemälde von Paula Modersohn-Becker und Vincent van Gogh, und Bezüge zur antiken Mythologie.
Signaturen, Monika Vasik (Oktober 2022)
Nendza scheint sich treu geblieben: Es gibt faszinierende Einfühlungen in Bäume, ein ganz altes Thema für ihn, doch immer wieder anders: wie geastete Milch / ist dieses Fließen im Weichholz im Arboretum-Zyklus. Man trifft auf wundersame Liebs- und Naturgedanken, eine Starenwolke, mit Auslassungszeichen verknüpft oder auf dreizeilige Kasakaden ... Naturräumliches und Geschichtliches, Lektüreerfahrung, Fachsprachliches und zärtlich klangrhythmisches Wortleuchten sind in seiner Poesie verschränkt.
SAX, Patrick Wilden (November 2022)
Die Bandbreite von Jürgen Nendzas Ausdrucksmöglichkeiten ist enorm, ohne dass ihm dabei der stilistische Zusammenhalt verloren geht. Es ist fast ein wenig, als hätte der Autor so etwas wie ein lyrisches Konzeptalbum herausbringen wollen, einen qualitativen Orientierungspunkt für das deutschsprachige Naturgedicht des frühen 21. Jahrhunderts. Wenn dies sein Anspruch gewesen sein sollte, so kann man das Unterfangen getrost als sehr gelungen bezeichnen. Wenn nicht, so spräche es für die Bescheidenheit einer der ganz großen poetischen Stimmen in diesem Land.
literaturkritik.de, Marcus Neuert (Januar 2023)
Den Auftakt bildet der achtteilige Zyklus Abraum, der die in Nendzas Werk schon mehrfach erprobte Methode aufgreift, die Hinwendung zu einem Landschaftsraum (dem Rheinischen Braunkohlerevier) mit der Erschließung von dessen geschichtlicher Imprägnierung zu verknüpfen ... Durch die Wahrnehmung von Karabinerhaken und Baumhäusern gerät auch in dezenten Anspielungen die politische Auseinandersetzung um den Erhalt des Hambacher Forstes in den Blick ...
Das von Nendzas Gedichten auf ebenso unaufdringliche wie intensive Weise evozierte Ineinanderverwobensein von Landschaft, Geschichte, Alltag und Wahrnehmung verdankt sich einer hohen sprachlichen Verdichtung. Ihr gelingt es, aus Fachterminologie, exakter Beobachtung und Assoziationen eine fantasievoll genaue Metaphorik zu kreieren. Seine Dichtung bietet der Leserin und dem Leser Übergänge ins Unbekannte, Einladungen ins Offene.
Signum, Jürgen Egyptien (Winter 2023)
Das ist das wirklich Spannende: Die Sprache, die Jürgen Nendza benutzt oder besser erschafft, kreiert, ist assoziativ und fast traumhaft. ... Er hat bei seinen Recherchen Worte gesammelt aus verschiedenen Fachsprachen. Die Worte machen bei ihm eine Verwandlung durch und bekommen im Gedicht eine völlig neue Bedeutung.
WDR 3 Kultur am Mittag, Nicola Reyk (2023)