Wortwandel
Zu den Gedichten von Měrana Cušcyna
von Jayne-Ann-Igel
Měrana Cušcyna schreibt ihre Texte originär in der deutschen wie der sorbischen Muttersprache, und die jeweils in die andere Sprache übertragenen Texte stellen letztendlich Originale dar, auch wenn sie sich am ursprünglichen Text orientieren. Im von der Autorin praktizierten Übersetzungsprozess gewinnen sie eine Eigenständigkeit. Die meisten Texte dieses Bandes sind zunächst in deutscher Sprache entstanden.
Die Texte durchzieht eine Selbstverständlichkeit der Zweisprachigkeit, das ist ein Geschenk an uns Leserinnen und Leser. Eine Selbstverständlichkeit, in der dennoch Risse spürbar werden, je nachdem, aus welchem sprachlichen Umfeld man kommt. Die Autorin thematisiert diese Risse, Sprache wird räumlich wahrnehmbar: sie setzten alle über zum aber (Irritation zweisprachig), von sprachetagen ist die Rede (Naschwerk, Kapitel 4). Das Sprachliche wird auch als Körperliches erfahrbar (Wortwäsche). Feine Beobachtungen des sorbisch-deutschen Wortwandels sind durchweg zu entdecken, humorig und hintersinnig, spielerisch. Und Legenden scheinen sich neu zu bilden, wenn etwa der randwischer (Kapitel 5) beim Entstauben der Bücher Buchstaben, Zeichen oder gar Worte verschwinden lässt.
Von der Herkunft gehen wir zur Zukunft über (Woher wohin), so ließe sich das Eröffnungs-Kapitel des Bandes charakterisieren. Wobei die Texte mit den teilweise hartgesetzten Binnenreimen, was die Zukunft angeht, folgerichtig eher Zerrbilder hervorrufen. Man denke an abgebrochene Traditionen, versehrte Landschaften, an Bergbau, auch Flucht. Doch wie gestaltet sich die Erinnerung an die Herkunft, zeitlich und räumlich, angesichts der Zukunftsaussichten, welche Bilder erzeugt sie? Möglicherweise ganz andere als jene, die wir erwarten oder gewohnt sind. So geschieht es in Měrana Cušcynas Gedichten, in denen einem die scheinbar vertrauten Lebensmarken völlig neu begegnen, Bruchstellen offenkundig werden.
Das Verhältnis zu Vorfahren, der Umgang mit Verlusten, mit Trauer spielen in den weiteren Texten eine zentrale Rolle, die Frage nach dem, was man miteinander geteilt hat, und wo sich im Heute Gräben neu bilden. Auch Charaktergestalten, die das dichterische Ich vom Fenster her oder im Vorbeigehen wahrnimmt, haben sich in wunderbaren literarischen Skizzen niedergeschlagen. Sehr intensiv wirken die Gedichte des Kapitel 8, die einen Krankenhausaufenthalt reflektieren, die Erfahrung der Entsicherung des eigenen Daseins, das dichterische Ich lässt uns teilhaben an dem Versuch, sich nach einer Operation neu zu »justieren« resp. zu orientieren.
Aufgewachsen ist Měrana Cušcyna in der Lausitz, einer Region, in der Zweisprachigkeit eher die Norm darstellt und in der das Benannte in der Bedeutung der jeweils anderen Sprache andere Facetten und Bedeutungsverschiebungen aufzuweisen hat. So findet eine stete Verwandlung statt, der die Autorin nachspürt, die sie aufscheinen lässt, wiewohl die Dinge sich gleich bleiben. Es gleicht einem Tanz auf dem Grat, was Měrana Cušcyna hier zelebriert, und es erinnert in der Leichtigkeit, im Humor an Kito Lorenc, einen der großen Dichter der Vorgängergeneration. Nicht zuletzt finden sich im vorliegenden Band auch Bezüge auf diesen Dichter (Lang ist’s her, Kapitel 3).
Mit Měrana Cušcynas Band erscheint eine weitere gewichtige Stimme der sorbischen Poesie in unserer Reihe, für den deutschsprachigen Raum ist es fast ein Debüt. Bislang waren nur wenige Texte in deutscher Sprache zu entdecken, in Literaturzeitschriften und Anthologien sowie zwei kleineren Monographien (Tauschgut, Leipzig 2017, und Zwiegeflecht, Wilhelmshaven 2022), während sie in sorbischer Sprache seit der Jahrtausendwende schon eine Anzahl an Bänden mit Gedichten und Prosa vorgelegt hat. Die Autorin schreibt seit dem achtzehnten Lebensjahr und begann in den 90er-Jahren zu publizieren. In deutscher Sprache stellt der vorliegende Band nun erstmals eine umfangreichere Sammlung ihrer Arbeiten vor.