Literarische Verschiebungen und neue Aura
Sechs Bemerkungen zu den Gedichten von Hannes Fuhrmann
Von Jan Kuhlbrodt
1
Die Gedichte von Hannes Fuhrmann sind höchst eigenwillige Gebilde. Ein gewisser Zug zur Romantik erscheint ihnen auf den ersten Blick hin innezuwohnen, er changiert aber bei genauerem Hinsehen zwischen Anklang und Zitat. Auch bedienen sich die Gedichte eines breit aufgefächerten Reichtums der Form. Überlieferung ist ihnen also eingeschrieben, und dennoch evozieren sie unterschwellig, aber durchgängig einen Eindruck von Fremdheit.
Im Wort fremd aber liegt ein Schlüssel, der den Zugang zu ihnen eröffnet, der die Texte im Wortsinn erschließt, denn sie finden ihren ersten Anlass im vorgefundenen also fremden Material. Im Material finden sie zu sich, zu ihrer eigenen Originalität.
2
Gedichte sind Kunstprodukte, mithin Resultate eines Produktionsprozesses, auch wenn der Prozess im Resultat zu verschwinden scheint. Die Herstellung eines jeden Gedichtes ist, wenn auch eine hoch artifizielle, so in ihrer Spezifik doch eine Produktion im eigentlichen Sinn, und das heißt: aus einem vorliegendem Material wird in bestimmten Verfahren ein Produkt erzeugt. Soweit unterscheiden sie sich nicht von anderen Kunstprodukten, deren Erzeugung sehr spezifisches Material und Werkzeug verlangt. Seien es Marmor und Meißel, sei es Luftstrom und Instrument. Korpus, Saite und Schwingung.
Jetzt kann man behaupten, dass das Material der Dichtung die Sprache sei, diese Behauptung aber griffe, so richtig sie im ersten Moment auch ist, wesentlich zu kurz, denn Sprache liegt niemals als reine vor, sie ist immer in Ausdruck und Klang an Situationen gebunden, und sie erscheint uns zuweilen formalisiert als dichterische Konvention.
In der Produktion eines Gedichtes wird Sprache als Material transformiert; sie wird als fremde in die individuelle Sprache des Gedichts übersetzt und zuweilen trägt sie die Erinnerung an ihren Ursprung als Akzent.
Das Gedicht spricht in Zungen. Und Fuhrmanns Gedichte zeigen die Möglichkeit vieler.
3
Paul Valéry schrieb am Anfang des letzten Jahrhunderts: »Der erstaunliche Zuwachs aber, den unsere Mittel in ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrer Präzision erfahren haben, stellt uns in naher Zukunft die eingreifendsten Veränderungen in der antiken Industrie des Schönen in Aussicht. In allen Küsten gibt es einen physischen Teil, der nicht länger so betrachtet und so behandelt werden kann wie vordem; er kann sich nicht länger den Einwirkungen der modernen Wissenschaft und der modernen Praxis entziehen. ... Man muss sich darauf gefasst machen, dass so große Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst beeinflussen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden, den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern.«
4
Technik aber hat etwas Janusköpfiges, sie entsteht unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und wird in ihnen gebraucht?/?benutzt. Im neu Erschaffenen finden sich so immer auch Reste des rohen vorgehenden Materials. In jedem Gedicht sind Gedichte als Baustoff vorhanden. Das Material in neuer Gestalt ist soweit auch Erinnerung. Manchmal erkennbar und manchmal so verfugt, dass sie im neuen Text fast völlig verschwindet, dass, um sie zu entbergen, ein fast detektivisches Vorgehen vonnöten ist.
Aber die verbauten Materialien sind oder sie bleiben in jedem Fall vorhanden. Allein in der Vorstellung von Form, die ein Gebilde als Gedicht auszeichnet, steckt eine lange Beschränkung der Sprache auf Rhythmus und Klang. Vom Inhalt ganz zu schweigen.
Nietzsche sprach sogar davon, dass Kunst ein Tanzen in Ketten sei. Und diesen Kettentanz zelebriert Hannes Fuhrmann in seinen Texten, indem er sein Material aus vorliegenden Gebilden extrahiert. Er legt sich im Grunde die Ketten der Vorgänger an, und er kommt trotzdem oder gerade deswegen in eine eigene sprachliche Bewegung.
5
Der Literaturwissenschaftler und Philosoph George Steiner versuchte in seinem Essay Von realer Gegenwart eine Diagnose unseres Zeitalters und dessen, wie er es nennt, sekundärer, parasitärer Kultur, in der die Welt zu Tode geredet zu werden drohe und in der sich Beliebigkeit und Relativismus durchsetzen.
Parasitäre Kultur? Bedeutet das, dass den Universalgenies die Substanz entzogen wird, die nur sie in der Lage sind, bereitzustellen? Dem kann man entgegnen, dass die Substanz gerade im Bereich des Kommunikativen liegt.
Im Gegensatz zu Steiners These ist festzustellen, dass gerade das Sekundäre sich emanzipiert, es ist gewissermaßen selbst, ohne das Vorgängige vergessen zu machen, zum Primären geworden. Und als untrügliches Beispiel dafür können die in diesem Band versammelten Gedichte gelten.
Hannes Fuhrmanns Produkte sind durch verschiedenen Verfahren aus Fremdtext destilliert und erheben eben dadurch Anspruch auf eigene Gültigkeit und Autonomie.
Das, was ein naives Bewusstsein an Gefühl voraussetzen würde, entsteht im Gedicht im Vollzug, ist ein Hergestelltes, wie das Gedicht selbst.
6
Der Schweizer Schriftsteller, Essayist und Übersetzer Felix Philipp Ingold schrieb, dass es »Selbstgeschriebenes im Nachgang nicht gibt, nie gegeben hat; dass Autorschaft, weit weniger anspruchsvoll, lediglich als Beihilfe zur Werkentstehung beitragen kann, nicht also durch ein erst- und einmaliges Schöpferwort, sondern einzig durch Akkumulation, Disposition, Verknüpfung, Arrangment von immer schon vorgegebenen Materialien, vorgegeben durch Sprache und literarische Überlieferung, durch Erfahrung und Erinnerung, Materialien disparater Art und Qualität mithin, aus denen das Werk unter Schriftführung des Dichters, des Erzählers sich ergibt und eben keineswegs ganz neu geschaffen wird.«
Insofern dringt Fuhrmann mit seiner Art zu produzieren ins Herz der Kunst vor und macht das Schlagwerk sichtbar, das Dichtung als lebendige auszeichnet.
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