Zugang durch Umkreisung
25 Autoren geben Auskunft zum Gedicht und lassen den Leser am Entstehungsprozess teilhaben. Die aktuellen Beiträge reichen vom autobiographischen Bericht über das Werkstattprotokoll bis zum lyrischen Fragment. Zahlreiche Gedichtbeispiele ergänzen diese Umkreisungen, die Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt gesammelt haben.
»Zugang durch Umkreisung. Das kann vielerlei bedeuten. Zum Einen, die Umkreisung eines fernen Beobachtungsziels zur Datensammlung und zum besseren Verständnis, so wie die ISS die Erde umkreist. Oder die Umkreisung seiner selbst, ein Sufi in der Ekstase, wiederum zum besseren Verständnis und in der Hoffnung auf Offenbarung. Rationalität und Mystik.
In unseren Umkreisungen sind Autorinnen und Autoren verschiedenen Temperaments versammelt, die das Feld der Lyrik weniger abstecken, als dass sie es als Landschaft mit weitem Horizont betrachten.«
Aus den Nachwort von Jan Kuhlbrodt
Mit Beiträgen von Andreas Altmann, Klaus Anders, Jürgen Brôcan, Matthias Buth, Hugo Dittberner, Dieter M. Gräf, Martina Hefter, Manfred Peter Hein, Henning Heske, Stefan Heuer, Norbert Hummelt, Ulrich Koch, Jan Kuhlbrodt, Norbert Lange, Christine Langer, Stefan Monhardt, Jürgen Nendza, Tom Pohlmann, Marion Poschmann, Bertram Reinecke, Lars Reyer, Walle Sayer, Ludwig Steinherr, André Schinkel, Mathias Traxler
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Stimmen zum Buch
Der Verlag Poetenladen ist mit seinen Anfang 2010 erschienenen Umkreisungen. 25 Auskünfte zum Gedicht einen anderen Weg gegangen. Nicht nur hatten die Herausgeber den Mut, neben bekannten Lyrikern wie Martina Hefter und Norbert Hummelt weniger bekannte Autoren um Beiträge zu bitten, sondern sie haben auch Wert auf exemplarisches Vorgehen gelegt: Die Dichter sollten das Werden nur jeweils eines Gedichts hinsichtlich Motivwahl und Schreibprozess einlässlich schildern.
Dabei kam es naturgemäß zu sehr unterschiedlichen Darstellungen: Vom sturzbachartigen Notat bis zur vergrübelten, durch viele Stadien gehenden Entwicklung ist alles vertreten, ebenso von eher abstraktpoetologischer Herangehensweise bis zur Rechenschaft darüber, aus welchen emotionalen Tiefenschichten das Gedicht sich speist. Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker, Andreas Heckmann, Juni 2010
In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text. Wo für einige Autoren das Erklären und Entschlüsseln im Zentrum steht, gehen andere auf Distanz zum eigenen Text, von dem sie selbst nur so viel zu wissen scheinen, wie auch der Leser wissen oder erahnen kann.
Die Lektüre wird zum Blick über die Schulter des Schreibenden, durch den der Leser beobachten und nachvollziehen kann, wie sich aus zunächst undifferenzierten Gedanken- und Assoziationsgebäuden nach und nach einzelne Bilder, Motive und schließlich Gedichtzeilen herausschälen.
Für solche und viele andere Momente lohnt sich die Lektüre der Umkreisungen, die bewusst keine endgültigen Aussagen zum Gedicht treffen wollen – zumal es „das Gedicht“ nicht gibt.
Zeichen & Wunder, Anna Ertel, Juli 2010
Selbstbestimmungen, Erklärungen und Verklärungen ranken die mehr oder minder im Literaturbetrieb aufgefallenen drei Autorinnen und 22 Autoren um die von ihnen ausgewählten Gedichte. Es sind Proben im doppelten Sinne – zum einen von der sprachlichen Kraft seines Verfassers/seiner Verfasserin und zum anderen vom poetischen Vermögen des Gedichts.
Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
Neues Deutschland, Ralph Grüneberger, Mai 2010
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Jan Kuhlbrodt, geboren 1966 in Karl-Marx-Stadt / Chemnitz, Studium der Politischen Ökonomie in Leipzig, der Philosophie in Frankfurt am Main sowie Studium am Deutschen Literaturinstitut, zwischenzeitlich Arbeit als Lehrer in einem Projekt für straffällig gewordene Jugendliche und als Antiquar. Ehemaliger EDIT-Herausgeber. Lebt in Leipzig als Autor, Redakteur und Dozent. Mehrere Gedichtbände und Romane sowie Mitherausgaber der Reihe Neue Lyrik bei der KdFS.
Jürgen Brôcan, Jahrgang 1965, studierte Germanistik und Europäische Ethnologie in Göttingen. Unpublizierte Arbeit über die Lyrik des deutschsprachigen Surrealismus. Er lebt mit Frau und Kater in Dortmund als Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Englischen und dem Französischen. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter mehrere Gedichtbände.
Jürgen Brôcan
Einige Vorsätze
Orte und Ideen: Sie gehören zueinander wie ein Paar, und unter besonders günstigen Bedingungen befruchtet der Ort den Gedanken (denn nicht alle Ideen können jederzeit und überall entstehen). Die Idee zu dieser Anthologie mit poetologischen Statements (oder weniger pathosgeladen: mit Überlegungen und Beobachtungen zur Poesie) wurde jedenfalls nicht auf einer Tagung in einer der Weltstädte ins Leben gerufen, nicht als Nachhall einer scharfzüngigen Diskussion, nicht im Rampenlicht medialer Aufmerksamkeit, sondern an einem Holztisch, gedeckt mit weißem Tuch und altmodischem Kaffeeservice, in einer Fensternische mit Blick auf die Fachwerkhäuser auf der anderen Straßenseite, im Hintergrund das Geplauder der Bedienungen, und aus dem Raucherzimmer im Erdgeschoß waberte Zigarettenqualm herauf.
Das Café war uns empfohlen worden. Jan Kuhlbrodt und ich nahmen teil an einem Stipendiatentreffen in Wolfenbüttel. Es ging um den Essay, aber wir schweiften immer wieder in die Lyrik ab. Vielleicht sind die Gattungen gar nicht so weit auseinander, wie man gemeinhin glaubt. �Prosa: Die meine wird immer ›Essays‹ sein, und meine Verse: Beobachtungen�, schrieb Marianne Moore. Sie hätte ebenso gut und zutreffend schreiben können: Meine Gedichte sind Essays.
Die Dichtung befindet sich wieder im Aufwind. Sie hat ihr Eckchen in vielen Feuilletons. Trotzdem, es schreiben viel mehr ausgezeichnete Lyriker und Lyrikerinnen in Deutschland, als Namen in jenen Feuilletons auftauchen. Oder die großen Verlage zu drucken wagen.
Avantgardistisch oder reaktionär – diese Begriffe sind überholt und unangebracht. Wo befindet sich als die Dichtung heute? Es fehlen Standortbestimmungen. Paradoxerweise scheint es zuweilen, das Gedicht drohe im theoretischen Lyrikdiskurs zu verschwinden. Als sei es nichts als Konsequenz und Absonderung dieses Diskurses, ein schmächtiger Erfüllungsgehilfe, dem es an eigenem Leben fehlt. Gegen einen solchen Akademismus wollen die Herausgeber dieser Anthologie das Gedicht belebt sehen durch alles, was uns umgibt. Ein Gedicht, das aufgeladen ist mit Beobachterschaft.
Ein Blick hinüber zu den amerikanischen Dichtern und ihren zahlreichen Aufsätzen und Büchern zur Poesie zeigt, daß sich sehr wohl auf breitem Raum und mit intellektuellem Anspruch über Lyrik reden läßt – und zwar erklärend, und zwar über Gedichte, die weder den Bezug zum Publikum noch zur Welt verloren haben.
Das Gedicht ist vor Ort. Es vermißt die Welt und zeigt, wie maßlos und wie unermeßlich sie ist. Das Gedicht ist überall, im Irrenhaus, am Krankenbett, auf dem Klo, im Wartezimmer des Arztes, im Central Park, unter Strommasten, auf dem Pferderücken, in den unterschiedlichsten Landschaften.
In welcher Form und mit welchem Sprachgestus auch immer: diese Gedichte affirmieren.
Die Fragen, die sich an das Gedicht stellen lassen, sind endlos. Einige können beantwortet werden, andere sind unbeantwortbar. Das Gedicht, selbst wenn bis in die letzte Silbe verfugt, bleibt ein offenes Gebilde. Aufschlußreicher ist es daher, auf das Gedicht zuzugehen. Es zu umkreisen. Von verschiedenen Positionen aus zu beobachten.
Die vorliegende Anthologie ist eine Sammlung solcher Weg�warten.
Vielleicht – nein: sehr wahrscheinlich – ist die Welt seit Jahren komplizierter geworden, hat sich mit dem Zuwachs an vernetztem Wissen auch unsee Wahrnehmung verändert. Darauf kann und soll das Gedicht reagieren, mit scharfen Schnitten und Montagen. Doch letzten Endes greift es auf den alchemistischen Grundbaukasten zurück – : damit Wunderbares entsteht.
Wir haben um Äußerungen zum Gedicht und zum eigenen Schreiben gebeten. Die Beiträge fächern sich in ihrer Buntheit wie Kaleidoskope auf, sie reichen vom autobiographischen Bericht über das Werkstattprotokoll bis zum lyrischen Fragment und zur polemischen Abgrenzung.
Natürlich, am Ende ist das Gedicht wichtig, nicht das Schreiben über Gedichte. Aber ein Statement klärt das Gedicht ein paar Schritte weit, nicht selten auch für den Autor selbst. Man entlockt dem Gedicht neue, andere, bislang ungesehene / unbeachtete Aspekte und beweist seine Vielfalt – (entlocken, das heißt auch: entriegeln, mit einem drolligen Schlenker übers Englische).
Jürgen Brôcan, im September 2009
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